Einzelporträts: Natascha

Natascha ist eine Savant (Person mit Inselbegabung). Sie merkt sich Geburtsdaten fast aller Menschen, mit denen sie gut genug bekannt ist, um sie zu fragen, wann sie denn Geburtstag hätten. Fehlerlos erinnert sie sich noch nach Jahren: an Geburtstage ihrer Freunde, deren Kinder und Eltern.

Einmal fuhr sie ans Meer und saß im Bus neben dem Busfahrer. Sie unterhielten sich über dieses und jenes und Natascha fragte ihn, wann er denn geboren sei. Sechs Jahre später fragte sie mich, ob ich mich an jene Fahrt erinnern würde. Ich antwortete mit ja, und sie sagte, dass sie noch das Geburtsdatum des Busfahrers wisse.

Natascha hat am 27. Juli Geburtstag. An einem solchen Tag erhält man Gratulationen von seinen Angehörigen. Natascha gratulieren Freunde. Als nahen Angehörigen hat sie lediglich ihren sechsjährigen Sohn. Ihre Mutter ließ ihr neugeborenes Mädchen im Geburtshaus zurück. Dem Ehemann, von dem sie sich kurz vor der Entbindung getrennt hatte, hatte sie anscheinend nichts von der bald zu erwartenden Tochter erzählt. Die junge Frau wollte sich offensichtlich auf diese Weise an ihrem trinkenden und sie beleidigenden Ehemann rächen.

So verbrachte Natascha die ersten drei Jahre im Kinderheim, wo sie sich aufgrund mangelnder Aufmerksamkeit schlecht entwickelte. Und als es an der Zeit war, die Kinder an spezialisierte staatliche Einrichtungen zu verteilen, brachte man die kleine Natascha in einem Heim für behinderte Kinder unter – ihr Zustand wurde als zurückgebliebene geistige Entwicklung beurteilt.

So kam das eigentlich völlig gesunde Mädchen in eine Einrichtung, in der die Mehrheit der Kinder sehr schwere genetische Erkrankungen hatten und die Hauptaufgabe des Personals darin bestand, medizinische Versorgung zu leisten und die einfachsten physiologischen Bedürfnisse der Kinder zu erfüllen.

In diesem Kinderheim gab es keine schulischen Maßnahmen. Eine Erweiterung ihres Wissens erfuhr die aufgeweckte und fleißige Natascha durch einige ihr zugeneigte Krankenschwestern und Kindermädchen. Das Mädchen half ihnen oft bei ihren Aufgaben – im Gegenzug lehrten sie Natascha lesen, schreiben und rechnen.

Auf die Schulbank setzte sich Natascha erst mit 28 Jahren, nachdem sie beschlossen hatte, ihr Leben grundlegend zu ändern.

Sie rief ihre Freunde im MARTIN-Klub an und erbat ihre Hilfe, um aus dem Heim für behinderte Kinder herauszukommen, in dem gerade eine Abteilung aufgemacht wurde, in welcher noch die 30- bis 35-jährigen jungen Frauen bleiben durften. Die im Haus befindlichen jungen Männer und noch ältere Frauen sollten Einweisungen in staatliche Behindertenheimen erhalten. Da diese in der Ukraine gleichzeitig die Funktion von Altersheimen haben, sind das also Orte, in denen Menschen Menschen mit ersthaften physischen Defiziten gepflegt werden, man sie wohnen lässt und verpflegt.

Natascha hatte mit ihren 28 Jahren ganz andere Bedürfnisse und Pläne. Der Schritt ins Unbekannte, weg von dem Ort, an dem sie ihr ganzes bisheriges bewusstes Leben verbracht hatte, fiel ihr nicht leicht.

Hinzu kam, dass das staatliche System in Person der Heimleiterin sie absolut nicht gehen lassen wollte. Von der Anzahl der Schützlinge hängt die Finanzierung der Einrichtung ab. Fälle, in denen erwachsengewordene Schützlinge aus eigenem Willen die Einrichtung verließen, waren äußerst selten. Natascha war eine volljährige alltagstaugliche Frau, der man mitteilte, dass ihr Antrag auf Verlassen der Einrichtung nicht hinreichend sei. Man müsse einen Vormund für sie finden, der sie, erwachsen und geschäftsfähig, unter seine Obhut nehmen, sie in seiner Wohnung anmelden und die Bürgschaft für ihre materielle Versorgung übernehmen würde.

Und sie hätte möglicherweise ihren Frieden mit dem Verbleib in der Einrichtung geschlossen und dort weitergelebt, wenn ihr nicht Freunde aus einer gesellschaftlichen Organisation erklärt hätten, dass diese Forderungen absurd sei und ihr ihre Hilfe angeboten hätten.

Acht Jahre bevor sie Natascha das Heim verließ, lernte Natascha den MARTIN-Klub kennen und blieb seitdem mit ihm in Kontakt: von Zeit zu Zeit telefonisch sowie bei den sehr seltenen Treffen, wenn Volontäre angekommen waren, um etwas mit den Kindern zu unternehmen und Mitbringsel zu verteilen. Natascha ist anders als viele andere und wollte die Verbindung auch darüber hinaus aufrechterhalten. Ein paar Mal durfte sie das Kinderdorf besuchen, die Heimstätte des MARTIN-Klubs. Die dortigen Erzieherinnen und Schützlinge gewannen sie sehr lieb und jedes Mal ließ man sie nur mit großem Schmerz „nach Hause“ gehen.

Damals sprach Natascha offen aus, dass sie zwei Träume in ihrem Leben habe: ihre Eltern ausfindig zu machen und in die Schule gehen zu dürfen, um zu lernen.

Den ersten Traum zu erfüllen, erwies sich als leicht und schwer zugleich. Eine der Kinderfrauen, die sich gut zu Natascha verhalten hatten, schrieb aus ihrer Akte die Kontaktdaten ihrer Mutter ab.

Damit war es gar nicht schwer, die Frau ausfindig zu machen, die zu dem Zeitpunkt in ihrer neuen Familie mit Mann und erwachsenem Sohn lebte, es aber kategorisch ablehnte, zuzugeben, dass sie jemals eine Tochter geboren und diese verlassen hätte. In ihrem Gesicht – dem von Natascha sooo ähnlich – war die Angst zu lesen, ihren schrecklichen Fehler anzuerkennen und damit ihr neues Leben zu zerstören. Auch mehrere weitere Versuche, zu Nataschas leiblicher Mutter vorzudringen, blieben erfolglos und so erstarb der Traum über ein Treffen mit ihrer Mutter. Endgültig zerstörte ihn der Krieg, nach welchem zwischen Donezk und Dnipro, wohin Natascha 2014 mit dem MARTIN-Klub floh, eine Grenze verläuft.

Für die Verwirklichung des zweiten Traums war es notwendig, etwas Fantasie aufzubringen.

In der Ukraine gibt es Abendschulen für Erwachsene. Jedoch für Natascha gelang es den Sozialarbeitern des MARTIN-Klubs, einen Platz an einer Schule mit erheblich beschleunigtem Unterrichtsdurchlauf zu erhalten. Nach zwei Jahre intensiven Lernens beendete Natascha die Mittelschule und erhielt ihr Zeugnis. Natürlich sind diese erworbenen Kenntnisse kaum zu vergleichen mit denen von Absolventen einer regulären 11-Klassen-Schule, aber sie erweiterten ihren Horizont und machten weitere Pläne für eine Berufsausbildung möglich. Inzwischen erwarb Natascha das Diplom eines staatlichen Berufsbildungskurses als „Designer für Vitrinen, Räume und Gebäude“ und würde gern ihre Ausbildung fortsetzen.

Heute widmet Natascha ihr Leben vorwiegend dem Wohlergehen und der Erziehung des ihr am nächsten stehenden Menschen und einzigen Verwandten – ihres Sohnes Svjatik. Der Vater des Kindes war nicht bereit für die Geburt eines Kindes, hatte Angst vor der Verantwortung und verließ die schwangere Natascha. Da blieb ihr nichts weiter übrig, als wieder in die Heimstätte des MARTIN-Klubs zurückzukehren. Hier war diesen Moment ihr Zuhause und natürlich wurde sie mit Freude zurückgenommen. Natascha nimmt es dem Vater des Jungen nicht übel – schenkte er ihr doch etwas sehr Wichtiges – ihre Familie, auch wenn er selbst nicht Teil von ihr wurde.

Noch vor der Geburt des Sohnes luden Freunde von Julenka Natascha zu sich ein. Davor konnte sie nicht einmal von einer so weiten Reise träumen, es fiel ihr sogar schwer, sich nur vorzustellen, wie weit weg sich Berlin von dem ukrainischen Makejevka befand. Aber als sie bei Erika wohnte, begriff Natascha, dass es für Freundschaft keine Grenzen gibt.

Heute wohnt Natascha mit ihrem Sohn in Dnipro in einem Wohnheim, in dem sie ein Zimmer gemietet haben. Svjatik ist ein sehr aufgewecktes lebenslustiges Kind. Natascha nutzt jede Möglichkeit, um seine physischen und intellektuellen Fähigkeiten zu entwickeln. Er schwimmt in der Schwimm-halle, spielt Fußball, beschäftigt sich mit Englisch und kommt bald zur in die Schule.

Natascha verdient sich etwas dazu, hat viele Freunde gefunden, geht in die evangelische Kirche und begann vor kurzem ehrenamtlich in der gemeinnützigen Einrichtung „Caritas“ zu arbeiten, von der sie nach dem Umzug einige Male humanitäre Hilfe erhielt.

Ihr Leben ist alles andere als leicht, aber es ist so, wie Natascha selbst es haben möchte. Sie entscheidet selbst, ob sie lernen möchte und als was sie arbeiten möchte, was sie zum Mittag zubereiten möchte und wohin sie mit ihrem Sohn spazieren geht.

 Sie erkämpfte sich ihre Rechte: einfach nur zu leben, zu lieben, sich zu entwickeln, eine Familie zu haben. 

   – Ich habe einen Traum:

Ich würde so gern so gern ein Buch schreiben.

Möchte meine Geschichte mit den Menschen teilen, möchte, dass die Menschen verstehen: Es lohnt sich nicht über Vergangenes nachzudenken, nach vorn soll man schauen.

Wenn es mir gelungen ist zu überleben und mein Leben zu verändern, warum soll es dann nicht auch anderen gelingen?

Dieses Buch ist bisher nur in Planung, aber den Gedanken trägt Natascha oft den Obdachlosen vor, für die sie zusammen mit anderen Ehrenamtlichen kocht und kostenloses Essen ausgibt.

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Aufgeschrieben 2021 von Vika, der Leiterin des MARTIN-Klubs

Einzelporträts: Nastja

Ich habe eine Freundin. Wir kennen uns seit 40 Jahren, 30 von ihnen sind wir fast täglich zusammen. 2002 arbeitete sie in der Privatwirtschaft in einer Autohandlung. Da das gesamte MARTIN-Klub-Team zu einer Konferenz nach Wien eingeladen wurde, war es notwendig, dass sich jemand eine Woche lang in unserem Kinderheim um die Kinder kümmerte. Swetlana (Koseform: Sweta) nahm Urlaub, verbrachte diese Tage dort – und kehrte nie in ihre Autohandlung zurück. Vor etwa 10 Jahren sollten wir einen sechsjährigen Jungen in ein Internat geben, weil seine Eltern gestorben waren. Die Behörde stellte seine Dokumente aus. Verwandte fanden sich nicht, die ihn hätten aufnehmen können. Und so landete er in Swetas Familie. Und dann auch sein Bruder, denn „Wie kann ein Bruder unseres Sohnes in einem Internat leben?“

Swetlana hat einen Partner. Dieser Mann ist charakterfest, aber weder sentimental noch fromm. Dessen ungeachtet betete Fjodor, nachdem er einen unerwarteten Gewinn gemacht hatte und zu Bett gegangen war, um zu erfahren, wem er eine Spende zukommen lassen sollte. Entweder der Kirche oder einer bestimmten Person. Am Morgen begegneten wir uns. Ich erinnere mich, dass Swetlana irgendwohin fuhr, und Fjodor musste loswerden, was er geträumt hatte – und erzählte es mir. Er träumte, dass er zu einem Kinderheim gekommen war und anklopfte. Und ihm wurde ein hinkendes Mädchen mit sehr lockigem Haar herausgebracht, das sagte: Wie jetzt, Fremde hast du aufgenommen und dein eigen Fleisch und Blut ausgesetzt? Der Mann wachte schweißgebadet auf und beschloss, ein Zimmer für das neue Kind an das Haus anzubauen. Daran, dass keines seiner eigenen Kinder in irgendeinem Heim lebte, bestand niemals ein Zweifel. Aber früher erhielt er auch niemals eine Antwort auf seine Gebete.

Zwei Monate später rief uns eine Mitarbeiterin des Kinderhilfsdienstes, der nichts mit der Kirche zu tun hatte, an und sagte: Wir haben ein Kind mit angeborener Hüftluxation, und wir beten, dass es irgendjemanden gibt, der es in seine Familie aufnimmt. Andernfalls müssen wir sie in ein Heim für Behinderte geben. Und dort stirbt sie sofort. Ich war noch am Telefonieren, als Swetlana schon mit den Händen zu winken begann. Nehmen wir, nehmen wir, sie ist unsere. Am Ende des Telefonats wiederholte ich diese Worte, und da war das Kind auch schon untergebracht: seit Familie Petrenko (Swetlana und Fjodors Familie) den ersten Jungen aufgenommen hatte, waren 11 Monate vergangen. Das bedeutete, dass ihre Dokumente (zur Gestattung einer Adoption) noch vorlagen und gültig waren. Sie brauchten keine neuen zu beantragen. Ein echtes Wunder.  Eine Woche später war Nastja schon in ihrem neuen Zuhause. Sie war vollkommen kahlköpfig. Mit ihren 4 Jahren wog sie 9 kg und hatte genauso viele Diagnosen aufzuweisen. Als ich in ihrer Krankenakte blätterte, dachte ich: Wenn die Unterlagen zu uns gelangt wären, bevor wir das Kind gesehen hatten, so wäre Fjodors Traum wahr geworden, und er hätte „seine“ Nastja im Heim gelassen.

Und trotzdem lerne dieses kleine Menschlein innerhalb eines Jahres sprechen. Ihr erstes Wort war „Bier“, das sie im Laden klar und durchdringend aussprach, als sie einen vertrauten Gegenstand erblickte. Sie verblüffte damit die errötenden Eltern, die schon sehr lange gar keinen Alkohol mehr getrunken hatten. Dann lernte sie neue Wörter. Jetzt verblüfft Nastja mit ihrer Redekunst und ihrem Vermögen, meisterhaft pädagogische Wahrheiten zu präsentieren (Es stellte sich später heraus, dass ihre biologische Großmutter Lehrerin gewesen war. 😉).

Bereits im ersten Jahr – stellen Sie sich das vor – wurde bereits die Hälfte der Diagnosen hinfällig. Das Kind blühte auf. Swetlana hatte es nicht leicht: Monate vergingen in einer fremden Stadt im Krankenhaus mit Operationen, Nastja musste ein Jahr lang Gips tragen. Aber sie pflegten sie gesund. Und als wir 2014 vor dem Krieg flohen, war sie eine gewöhnliche Erstklässlerin mit lockigem Haar, die sich wie eine ganz normale Tochter von außergewöhnlichen Eltern fühlt. Auch die älteren Jungs wuchsen so auf, dass die Bräute Schlange stehen: höflich, gebildet und gutherzig – wie Lords.

Heute ist der Adoptionstag. Außer dieser drei Kinder, über die ich schrieb, haben sie noch drei: ein leibliches und zwei angenommene, insgesamt sechs. Und noch viele weitere, die außerhalb der Familie unterstützt werden. Ich gratuliere Swetlana Petrenko und Fjodor Petrenko zu diesem Festtag.

Da ich in der Nähe wohne, habe ich verstanden, welcher Zauber wahre Schönheit hervorbringt: Die Erziehung eines Kindes ist tägliche Arbeit – und diese Arbeit trägt Früchte.

Textfeld: Nastja heute…. eines Tages kam Sweta weinend zur Arbeit. Sie sagte: „Verstehst du, wie leid mir die Eltern meiner Kinder tun? Der Segen, den sie hätten bekommen sollen, das bekam alles ich…“

Viktoria Fedotova (Martin-Klub)

Jahresbrief 2016

Liebe Julenka-Freunde, Unterstützer und Mitglieder,

das Jahr 2016 liegt schon fast vollständig hinter uns. Es war nicht nur ein sehr ereignisreiches Jahr für die Weltpolitik, sondern auch für Julenka und den Martin-Klub. Auch wenn es uns im Gegensatz zu unseren ukrainischen Freunden nicht so oft gelang, unsere Webseite zu aktualisieren, so standen wir immer in enger Verbindung mit dem Martin-Klub.

Wie aus den Medien zu entnehmen, hat sich an der territorialen Situation der Ukraine nichts geändert. Der Osten ist weiterhin Kriegsgebiet, und die Mitte und der Westen sind weitestgehend friedlich.
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Danke

Beide Häuser des Martin-Klubs werden intensiv genutzt. Obwohl sie nun durch eine Grenze getrennt sind, gibt es einen regen Austausch der Martin-Klub-Mitarbeiter. Olga Nikolajevna ist als einzige Erzieherin im Donbass geblieben und betreut dort das Kinderdorf mit aktuell vier jungen Müttern und deren insgesamt sechs Kindern. Besonders dort in der Ostukraine sind die Zustände sehr schwer, das tägliche Leben eine große Herausforderung. November 2015 schrieb uns Viktoria in einer Mail:

„Olga aus Makeevka kam zu uns. Wir weinten gemeinsam, unterhielten uns. Sie trug mir auf, euch ein großes Dankeschön für die Unterstützung zu sagen. Das ist kein Dank aus Höflichkeit. Es ist Dankbarkeit dafür, dass die Menschen leben. Darunter auch Olgas Familie.“

 

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