15 Jahre Martin-Klub – Teil 1: Straßenkinder

Evolution der Hilfe. Das Leben geht weiter

Der Martin-Klub hat sein 15-jähriges Jubiläum begangen. Nach diesen 15 Jahren, die sich die NGO aus Makeevka (Donetsker Gebiet) dem Retten von Straßenkindern gewidmet hat, entwickelte sich die Organisation zum Netzwerkkoordinator und hat seine Zielgruppe bedeutend erweitert. Ein Rückblick, der von der langjährigen Martin-Klub-Mitarbeiterin Aljona Gorgadze-Kuznecova aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt wurde. Heute arbeitet die Organisation, die selbst aus der besetzten Region geflüchtet ist, mit Flüchtlingen aus der Ostukraine zusammen und hilft bei der Rehabilitation von demobilisierten Soldaten. Aber auch die bisherige Zielgruppe wird nicht aus dem Auge verloren: knapp sechs Monate nach der Flucht aus dem Donetsker Gebiet wurde im Nowomoskowsk Bezirk das neue Sozialhaus eröffnet, das schutzbedürftigen Kindern und jungen Menschen offensteht. Das Haus haben die Teammitglieder Fäustling/Handschuh genannt – nach dem Namen eines alten ukrainischen Volksmärchens.

Wie alles anfing…

Im Jahr 2001 war das Wort „freiwillig“ in der Ukraine mündlich kaum verbreitet. Nur wenige Menschen hier haben verstanden, was es bedeutet, und dass es überhaupt Nichtregierungsorganisationen gibt. Es klang etwa wie ein Club der Bierliebhaber oder der Bücherfreunde. Gleichzeitig konnte man an den Bahnhöfen und Märkten eine Menge von obdachlosen Kindern sehen. Man hatte Angst vorbeizugehen, man schrieb über sie in den Zeitungen – nicht persönlich, sondern über das Problem. Noch mehr als diese Kinder haben die Erwachsenen des Martin-Klubs gestaunt, die ihnen furchtlos in Kellern und Heizungsschachten folgten. Sie haben ihnen Essen gegeben, sie gewaschen, saubere Kleidung und Medikamente mitgebracht. Die Straßenkinder und diese Erwachsenen konnte man nun in einer Unterkunft antreffen, dem „Kinderdorf“. Das war ein baufälliges Haus am Rande der kleinen Stadt Makejewka. Hier haben die obdachlosen Jungen unter der Begleitung von Erziehern gelernt, ein normales Leben zu führen.

Es gab immer wieder Kontrollaktionen, die von der Polizei oder dem Kinderschutzdienst organisiert wurden. Man hat den Journalisten schmutzige, mit Klebstoff verschmierte Kinder gezeigt. Man hat sie von der Straße genommen und in Polizeistation gebracht, sie geschlagen, in ein Protokoll eingetragen und weitertransportiert – manche nach Hause, manche ins Kinderheim. Danach haben die Behörden berichtet, wie sie gegen Obdachlosigkeit kämpfen. Im Martin-Klub konnte man neben solchen Kindern auch die Erwachsenen kennenlernen, die Straßenkinder nicht als Verbrecher wahrgenommen haben, sondern ihnen eine Alternative, ein normales Leben vorgeschlagen haben. In diesem Leben gab es anstelle eines schmutzigen Kellers ein Haus, statt eines Kartons auf dem Boden gab es ein Bett, statt Hot-Dog an der Busstation gab es ein Teller Suppe und selbstgebackenes Brot, und statt einer Tüte mit Klebstoff gab es Musik. Brot und Musik schienen wie ein Wunder zu wirken. Können sie Brot backen? Der 10/jährige Mischka Rasskazow, der schon ein paar Jahre auf der Straße verbracht hatte, konnte das fast professionell tun. Und Gesang mit Flöte und Gitarre gab es anstelle einer Idee und Mission, die das Martin-Klub-Team erst viel später formuliert hat. Für kleine Pilger war das ein Ersatz der imaginären Freiheit.

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Entsprechend der offiziellen Statistik lebten 2001 auf den Straßen von Donezk und Umgebung mehr als 300 Straßenkinder. Tatsächlich gab es viel mehr.

Victoria Fedotova, die Gründerin und Direktorin des Martin-Klubs erinnert sich :«2001 hatte ich das Gefühl, dass wir ständig gegen Kinderheime und Sozialdienste gekämpft haben. Jeder von unseren Schützlingen war eigentlich ein Waisenkind mit lebenden Eltern und wurde offiziell in ein Kinderheim eingeschrieben. Die Verwaltung der Kinderheime und Sozialarbeiter des Kinderschutzdienstes haben Straßenkinder nur dann bemerkt, wenn wir sie aus den Schachten und Keller herausgezogen haben. Ab diesem Moment begann eine stetige Folge von „ihr sollt“, „ihr dürft nicht“, „ihr stört uns“, „was für eine Unordnung!“ Man hat uns das laut und ohne Zweifel gesagt. Es waren die Beamten, deren Aufgabe es war zu verhindern, dass Kinder auf die Straße gerieten. Es kam eine Inspekteurin von der Sanitärstation. Sie ließen uns ein zweites Schneidbrett zu kaufen – eines für Brot und extra eines für Fleisch. „Wo kaufen sie ein? – Im Laden“. „Wie transportieren sie Lebensmittel? – In den Taschen“. „Wir müssen euch schließen. – „Ok, Jungs, zieht euch an. Die Frau möchte euch mitnehmen.“ – „Oh, Sie haben mich vielleicht falsch verstanden…“ Wir werden uns nicht beeilen. Der Feuerwehrdienst ließ uns Steckdosen unterschreiben und den Stuhl vom Korridor wegnehmen.

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2001 –die ersten Einwohner vom“ Kinderdorf“

Das „Kinderdorf“ versuchte nicht, die Kinder im Haus zu isolieren. Das Ziel war es, ihnen ein normales Leben zu zeigen und zu lehren. Für die Straßenkinder war das eine fast unerreichbare Dimension. Das Motto war kurz: «Bettler haben keine Diener“. Straßenkinder sollten sich um sich selbst kümmern. Sie lernten Kleidung und Geschirr zu waschen, Suppe zu kochen, zu lesen und zu malen. Das war der wichtigste Unterschied zum staatlichen Kinderheim, wo das Kind vom Personal bedient wurde: man hat für Kinder gekocht, sauber gemacht, Kleidung gewaschen. Im Kinderdorf haben die Erzieher nur gezeigt, was man tun muss und dann kontrolliert. Alle Arbeiten haben die Kinder selber gemacht. Das hat nicht jedem Kind gefallen. Manchmal gab es kein Beispiel in der eigenen Familie, keine positiven Erfahrungen und die Abenteuerlust rief die Kinder auf die Straße zurück. Später besuchten sie das „Kinderdorf“. Manche kamen einfach um zu essen und manche wollten länger bleiben.

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Manche Kinder, die ins Kinderdorf gekommen sind, haben sich hier zum ersten Mal satt gegessen und in einem sauberen Bett geschlafen.

Nach zehn Jahren wurde diese offenherzige aber primitive Hilfe in ein neues Verständnis des Martin-Klubs umgewandelt: im Mittelpunkt stand die Bedeutung der Familie für das Kind. Der Martin-Klub begann, sich mehr auf die Stärkung der biologischen Familien der Kinder zu konzentrieren, und in den Fällen, wenn dies nicht möglich war, versuchte er Pflegefamilien zu schaffen und diese zu unterstützen. Das war vor dem Krieg. Mit Hilfe des Martin-Klubs haben vier Mitarbeiterfamilien jeweils ein bis drei Waisenkinder adoptiert.

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Robert Chervinski – ein Freiwilliger aus Polen. Seine Spende ermöglichte es, das erste Haus zu kaufen.

Das neu entstandene „Kinderdorf“ in Makeevka erzeugte gemischte Gefühle unter den Beamten und in der Öffentlichkeit. Es gab Anlass zu Gerüchten, Groll und Bewunderung. Seine Hauptrolle war es aber, Hunderten von obdachlosen Kindern in Donezk, Makeevka, Khartsyzsk und in benachbarten Dörfern das Überleben zu ermöglichen. Die zweite Aufgabe war die Entwicklung und Reifung einer gesellschaftlichen Organisation, die bezüglich des Kinderschutzrechtes eine große Kompetenz aufweist.